Berührung: ein menschliches Grundbedürfnis

Achtsame, absichtlose und platonische Berührung ist ein menschliches Grundbedürfnis, genauso wie andere Bedürfnisse nach Sicherheit, Nahrung, Schutz und Wärme, Sexualität usw. Achtsame platonische Berührung wirkt sich positiv auf unsere psyichische und körperliche Gesundheit, Wohlbefinden, unser Sicherheitsgefühl und Zugehörigkeitsgefühl und Selbstakzeptanz aus.

 

Menschen haben evolutionär gesehen hunderttausende Jahre in kleinen Horden oder Gruppen gelebt. Die oftmals falsch verstandene Idee von der Evolution als „survival of the fittest“, also „der Stärkste setzte sich durch“, ist heute widerlegt. Der Historiker Yuval Harari und viele Wissenschaftler_innen gehen heute davon aus, dass wir Menschen aufgrund unserer Fähigkeit in Gemeinschaften zusammenzuarbeiten evolutionär im Vorteil waren.

 

Wir sind soziale Wesen und ein Bedürfnis nach Gemeinschaft ist tief in uns verankert. Dies betrifft auch die körperliche Ebene. Über viele hundert tausende Jahre haben wir durch Zusammen-sein in Gruppen (mit viel Körperkontakt) überlebt, und diese Information ist tief in uns gespeichert.

 

In der heutigen westlichen Industriegesellschaft und individualistischem Turbo-Kapitalismus hält sich die Idee von einer „Jeder-gegen-Jeden Natur“ des Menschen nach wie vor hartnäckig. Durch religiöse Normen, Schul-, Militär- und andere Systeme wurde körperliche Nähe, besonders unter Männern verpönt, und es galt/gilt Menschen abzuhärten, damit sie gute Arbeiter*innen, Soldat*innen und Beamt*innen wurden. Bis in die 19050er Jahre hinein war die Idee, dass Babies und Kleinkinder nicht zu sehr "verhätschelt", nicht zu viel berührt, getröstet werden sollten, allgegenwärtig. Dies hat sich erfreulicher weise hin zu einem bedürfnisorientierten und gewaltfreien/(ärmeren) Erziehungsstil verändert.

 

Berürhungsmangel zum Zweck der Abhärtung ist auch keine universelle Geschichte, sondern betrofft vorallem eine Geschichte weißer Menschen in Europa. Das Resultat? Überspitzt formuliert: Patriarchat, Hunderte Jahre Kolonialismus, weiße Vorherrschaft, Rassismus, Faschismus auf der Makro-ebene und Berührungsmangel, Selbstwertprobleme, Isolation, Depression und Angsterkrankungen auf der individuellen Ebene.

 

Wenn wir zu wenig / kaum Berührung haben, denkt unser evolutionäres Gehirn, dass wir von der Gruppe ausgestoßen wurden, was (evolutionär) unser Todesurteil bedeutete. Daraus resultiert eine (chronische) Stressreaktion, welche unser Immunsystem schwächt und ganz viele Ebenen des Körpers beeinflusst.

 

Berührungsmangel kann uns krank und depressiv machen, und positiv formuliert kann einvernehmliche Berührung sehr fördernd auf unsere Gesundheit wirken, da sie die Stressreaktionen im Körper unterbinden und ein Gefühl von Sicherheit und hormonelle Balance wiederherstellen kann. Wichtig ist hierbei aber die Qualität der Berührung, Einvernehmlichkeit und, dass sie keinen rein funktionellen Charakter hat.

Biologische/ hormonelle Ebene

Bei gewollter, absichtsloser und schön empfundener nicht-sexueller Berührung schütten unsere Körper das Hormon Oxytocin aus. Dieses Hormon macht uns sozialer, wir zeigen mehr Empathie für Andere und es beeinflusst viele weitere gesundheitsfördernde Prozesse im Körper, bis dahin, dass z.B. Demenzerkrankungen weniger voranschreiten, oder Schmerzempfindungen reduziert werden.

 

Oxytocin ist als Hormon an ganz vielen Funktionen beteiligt, mittlerweile ist es aber aufgrund dieser Effekte auch als Bindungs- oder Kuschelhormon bekannt geworden. Es wirkt sich beruhigend, stress-mindernd und regulierend auf unser Nervensystem aus, was zur Folge hat, dass unser Immunsystem besser arbeiten kann. Weiters hat es auch viele positive Einflüsse auf psychische Gesundheit und Wohlbefinden, wie besseren Selbstwert, Stärkung eines positiven Körpergefühls, dem Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit. 

 

In der "Kuschelbewegung" arbeiten wir mit der Haltung, dass es ein eigenes Bedürfnis nach achtsamer, platonischer körperlicher Nähe gibt. Dieses steht gleichberechtigt neben dem Bedürfnis nach Sex und Sexualität und ist nicht ein Nebenschau-platz von Sexualität.

 

In unserer derzeitigen Kultur werden diese beiden Bedürfnisse jedoch meist noch immer als ein und dasselbe gesehen. Besonders (Cis)männer sind in der westlichen Gesellschaft aufgrund patriarchaler Normen und Geschlechterbilder darauf konditioniert, alles was mit Berührungsbedürfnissen zusammenhängt, als sexuell wahrzunehmen.

 

Viele Menschen haben gelernt zu denken, dass „Kuscheln“ irgendwann in Sex überlaufen muss und nicht für sich stehen kann. Umarmungen, Berührungen, Kuscheln sollen vor allem in romantischen Partner_innenschaften stattfinden und alles, das über eine Umarmung hinaus geht, ist für Freund_innenschaften oder gar Fremde zu viel, unpassend oder undenkbar.

 

Mit meiner Arbeit und Angebot möchte ich einen Raum schaffen, in dem Menschen ihre Bedürfnisse nach platonischer Berührung erleben und nähren können und auch zu mehr gesellschaftlichem Bewusstsein dazu beitragen.

 

Kuscheln und Berührung als Dienstleistung

Zu sehen bin ich liegend mit einem Kunden. Mein Kunde liegt mit seinem Gesicht nahe meines Halses. Ich halte seinen Nacken mit meiner linken Hand. Im Hintergrund ist der Balkon zu sehen.

Als Pionier oder ersten Menschen, der so etwas wie „cuddle therapy“ oder Kuschelsession anbot, gilt der US Amerikaner Travis Sigley. Dieser hat in einem Stripclub in San Fran Cisco gearbeitet. Dort stellte er fest, dass viele seiner Kunden weniger erotisch-sexuelle Bedürfnisse hatten, als danach zu reden, Aufmerksamkeit geschenkt, gehalten und gekuschelt zu werden. Im Zuge dieser Erfahrung hat er dann begonnen achtsame nicht-sexuelle Berührung und Kuscheln in 1:1 Formaten anzubieten.

 

Seit der Hippie Bewegung und sexuellen Revolution entstanden unzählige Bewegungen sexueller Befreiung von Kink, BDSM, Polyamourie, conscious sexuality, (Neo-)Tantra und vielem mehr. Innerhalb vieler Bewegungen entstanden Angebote um Sexualität und Intimität von Scham zu befreien, und frei und experimentierfreudig zu leben.

 

In Zuge dessen, entstand auch immer mehr Bewusstsein über sexuelle Gewalt und Übergriffe und es entstanden Konzepte zu Prävention dieser Gewalt und ein Bewusstsein zu Konsens, also Einvernehmen.

 

Als eine Möglichkeit Konsens zu erlernen und dem Bedürfnis nach achtsamer Berührung zu entsprechen, begannen Menschen Kuschelparties zu organisieren. Auf diesen Parties gibt es die Möglichkeit zu üben, eigene Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen, zu formulieren, danach zu fragen und ebenso die eigenen Grenzen zu spüren, einzuhalten und ein konsensuelles Ja oder Nein auszudrücken. Kuschelparties sind eine tolle Möglichkeit die eigenen Bedürfnisse nach Berührung kennenzulernen, zu lernen zu Geben, Nehmen, Empfangen und Erlauben, Konsens zu lernen und zu lernen, mit „Neins“ und Ablehnung entspannt umzugehen.

 

So boten immer mehr Körperarbeiter_innen, wie sexological bodyworkers, Massagetherapeut_innen und andere auch Kuscheln und absichtlose Berührung im 1:1 Formate unter den Namen Kuscheltherapie, Kuschelessions oder professionelles Kuscheln an.

Diese Kuschelangebote sind trotz zunehmender Bekanntheit und Professionalisierung noch immer eher in der Pionier-phase und erst langsam gibt es auch mehr wissenschaftliche Forschung über den Tastsinn und die Bedeutung und Wirkung von Berührung in therapeutischem Sinne. 

 

Im deutschsprachigen Raum gibt es derzeit, meines Wissenstandes nach, zwei Plattformen, die auch eine Ausbildung anbieten, den Kuschelraum in Berlin und die Kuschelkiste in Leipzig. Ich habe im Sommer 2020 die Ausbildung im Kuschelraum bei Angeline Heilfort abgeschlossen, da das Konzept, die Haltung und Werte gut zu mir passen. Auf kuschelraum.de oder unter Ressourcen, findest du weitere tiefer gehende Informationen und Links.